Alain Buttard
Vollendung als Skizze und Entwurf!

„Die Einbildungskraft des Künstlers“, sagt Balzac, „umfasst eine Welt von Möglichkeiten, die kein Werk zu realisieren vermag“. Liegt dies am Wesen des Werkes oder an der Unerschöpflichkeit der Themen? Jedenfalls bewegt sich der Künstler in dieser Spanne, dieser Pendelbewegung des Bewusstseins zwischen dem Unerreichbaren und dem Unausschöpflichen.
Ein Teil seiner selbst führt ihn in die Weite, Bewegung und Fülle, um alle Möglichkeiten auszuloten, die Realität in ihrer Vielfalt zu erfassen und die Selbsterfüllung in der Akkumulation dissonanter Beweise zu finden. Der andere Teil sucht in den Tiefen des Augenblicks die Hoffnung auf eine Einheit in einer Geste, die die Zeit anhält und setzt damit seine Wahrheit aufs Spiel – versucht seine Chance.
Das sind die beiden Haltungen, die dem Werk von Kammerer-Luka zugrunde liegen: das dem Augenblick verhaftete graphische Zeichen als Hoffnung und Lösung d. h. das Zeichen als Offenbarung – andererseits die seriellen Variationen als Annäherung an das Unendliche.
Die Hand und der Computer im Licht der Farbe.
Diese auseinanderdriftende Welt, in der alles Künftige der Zerstörung anheimfällt, kann nichts zur Reife bringen, es sei denn den Wandel selbst. Weder die Gesellschaft als Ganzes, noch ihre einzelnen Teile finden den Atem zum großen, ausstrahlenden, ganzheitlichen Werk. Die ununterdrückbare Kreativität des Menschen muss andere Wege finden zu ihrer Verwirklichung.
Wie ein immerwährender Neuanfang, wie ein lebendiges Wesen, das um seine unmögliche Entfaltung besorgt ist, besteht das Werk in dieser unsicheren, hinfälligen Zeit eher aus einer Summe von Annäherungen an die Form – als in der Form selbst. Das vorläufige nicht das definitive Werk ist charakteristisch für das Œuvre von Kammerer-Luka – sein Werk ist vielgestaltig und notwendigerweise unvollendet; es besteht aus unzähligen Skizzen und Fragmenten.
Wem Existenz ein Suchen ist, dem ist Nähe nur in Augenblicken gegeben.
Ob synthetisierendes Zeichen oder Variation, einmalige Geste oder farbige Vielfalt, dieses Œuvre findet in den Skizzen und Entwürfen den paradoxen Ort seiner Vollendung – Notizen, Skizzen oder Entwürfe, Fragmente und augenblickhafte Realisationen, die den Elan nicht erschöpfen, die das Mögliche verwirklichen und der künstlerischen Intention die Offenheit erhält, ihre suggestive Kraft.
Ein solches Werk hat keine Homogenität und Geschlossenheit. Es ist Gestaltung, die den Denkakt auslöst auch beim Betrachter und von ihm Weiterentwicklungen erwartet. In diesem Sinne ist sie im schöpferischen Akt, Konzeption und Kontemplation. Sie zeigt nicht sondern ermöglicht das Sehen.
Es gibt im Œuvre von Kammerer-Luka Arbeiten von besonderer Natur: Die Serie der Abdrucke und der Spurensuche, die das Werk durchgehend begleiten: Plakatabrisse, Fotografien, Industrieobjekte, Frottagen, Marmorierpapiere… Aber sie gehören nicht zum ›Ready Made, dem man sie zuordnen könnte, zu dessen polemischer Haltung gegenüber der Kunst und ihren Konventionen. Sie haben vielmehr Teil an der Meditation des Künstlers und sind eher ein episodischer Berührungspunkt zwischen Gestik und Serie, die sein Werk strukturieren.
Der Akt des Abdruckens ist dem Augenblick verbunden wie das graphische Zeichen – im eigentlichen Sinne Offenbarung. Indem er einen Teil der Realität in den Griff bekommt, gehört der Abdruck zu jener Weite d. h. zum Weg der Initiation. Zwischen der Suche nach der Einheit und dem unmöglichen Erfassen der Realität, ist der Abdruck nicht mehr nur das Spiegelbild der Wirklichkeit sondern dessen reale Präsenz im künstlerischen Akt, der sie im sichtbaren Objekt schon zum Denkakt verwandelt hat.
Seit dem Krieg und wohl noch für einige Zeit lebt das deutsche Volk seine tragische Zerrissenheit, greifbar nahe und zugleich symbolisch für die heutige Welt.
Es ist daher nicht erstaunlich, dass seine Künstler auf radikale Weise das Bewusstsein und die Sensibilität unserer Zeit zum Ausdruck bringen. Gelegentlich (bei Projekten für den öffentlichen Raum – Architektur, Stadtgestaltung, Industrie) hat Kammerer-Luka den inneren Elan und die notwendige Überzeugungskraft zur Verwirklichung einiger monumentaler Werke gefunden, die zum bisher Gesagten im Widerspruch stehen. Es scheint, als ob für Kammerer-Luka der Ort von Sinn im Miteinander liegt, als ob die Einheit des Seins zusammenfällt mit den Werten, die ihn als soziales Wesen bestimmen. Und auch darin liegt wahrhaft nichts Erstaunliches…
Ich habe Kammerer-Luka bei meiner Ankunft vor acht Jahren kennengelernt, um das graphische Erscheinungsbild für das Neue Belforter Theater (NZB) zu entwickeln. Fünf Jahre hat er unserem Kontakt mit dem Publikum gedient. Es berührt mich tief, im Augenblick meines Abschieds, die Retrospektive seiner künstlerischen Arbeit der Öffentlichkeit zu präsentieren…

Alain Buttard, Direktor des NTB und Kurator der ersten Retrospektive von Kammerer-Luka. Katalogtext ›Skizze für eine Retrospektive‹, April 1990.

 

Rainer Lawicki
Von der Ver-Dichtung der Form – zum offenen Bildwerk
G. F. Kammerer-Lukas künstlerischer Werkprozess

Zwischen zwei Polen bewegt sich G. F. Kammerer-Lukas künstlerischer und persönlicher Weg: der geistes- und naturwissenschaftlichen Analyse und der kreativen Spontaneität und Vitalität. Beide Pole durchdringen einander und berühren sich an den entgegengesetzten Ausdehnungspunkten, wie die den Kreis durchmessende Linie. Diese Linie bleibt nicht an der Oberfläche, sondern sucht das Wesen der Dinge zu erfassen und dem Bewusstsein zugänglich zu machen. Es ist ein Erfahrungsweg, der nicht die direkte Verbindung zwischen zwei Punkten nehmen kann, sondern eine gewundene Linie – vielleicht sogar eine Ellipse oder Spirale –, die sich um das eigene Zentrum windet. Diese Linie bildet den Ariadne-Faden, der aus dem verwirrenden und unüberschaubaren Labyrinth in ein dualistisch angelegtes Weltbild einmündet. Er führt an zwei Zentren vorbei, zwei Gegensatzpolen, in einem Prozess der wiederholenden Neubesinnung.
Die Signatur von Gerhard Friedrich Ludwig Kammerer wurde zu G. F. Kammerer-Luka und schließlich zu LUKA auf diesem Weg des beharrlichen Fragens nach dem Wesen des Seins, einer ontologischen Fragestellung in der Folge der Philosophie Martin Heideggers; aus der Erfahrung einer Generation, die den Krieg miterlebt und erlitten hat, die nach der Sinnerfüllung des Lebens fragt. Kammerer hat den Nationalsozialismus in der Hitlerjugend miterlebt, dem Tod bei einem Luftangriff während der vormilitärischen Ausbildung zum Segelflieger ins Auge geschaut. Er wächst in der Zeit des Existenzialismus auf, sich bewusst, dass die Weltauslegung nur noch auf dem Individuum beruht. Kammerer erlebt den Wiederaufbau Deutschlands in der französischen Besatzungszone und bemüht sich zeitlebens um einen deutsch-französischen Austausch – lebt und arbeitet in Belfort und im südfranzösischen Castres.
Sein wissenschaftliches Denken formiert sich in Freiburg und Bonn zwischen den Jahren 1950 und 1958 während des Studiums der Philosophie, Geschichte, Germanistik und der französischen Sprache. Er hört Martin Heidegger und setzt sich intensiv mit dessen Seins-Philosophie auseinander. Noch während des ersten Semesters arbeitet Kammerer an der Münsterbauhütte und bildet sich zum Bildhauer weiter. In der Folge besucht er die Abendzeichenkurse bei Rudolf Dischinger, die von der Freiburger Kunstakademie angeboten werden. Theorie und künstlerische Beschäftigung stehen gleichberechtigt nebeneinander – praktisches und geistiges Handeln und Verstehen. Nach Freiburg ist die Bonner Universität zwischen 1952 und 1954 seine zweite Station. Auch hier bleibt die Kunst lebendig und wird 1952 durch die Bekanntschaft mit Ernst Wilhelm Nay verstärkt, den er zwei Jahre lang im Atelier besucht, dessen Werkperiode der Rhythmischen Bilder Kammerer mitverfolgt und in den gemeinsamen Gesprächen diskutiert. Das Studium abzuschließen und freischaffender Künstler zu werden, ist sein unausgesprochenes Ziel. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Belfort 1958 / 59 folgen die Assessorenjahre am Gymnasium in Neustadt und Ettenheim, seine Beurlaubung vom Schuldienst und die Übersiedlung nach Belfort. In dieser Zeit arbeitet er an seinem Promotionsthema Die Gestalt des Wunderbaren bei Achim von Arnim, gleichzeitig schreibt Kammerer Gedichte und Novellen, beschäftigt sich intensiv mit dem Film, fotografiert, zeichnet und malt auf kleinen Bildformaten in beeindruckender stilistischer Vielfalt. Es entstehen Serien von Kunstwerken, die zeitlich zurückliegende motivische Bezüge ineinander verzahnen und die gegenständliche wie ungegenständliche Kunst gleichberechtigt nebeneinander halten. Im Tagebuch von 1964 / 65 reflektiert Kammerer über die begriffliche Trennung zwischen dem Gegenständlichen und Abstrakten: »12. 7. 65 Gegenständlich – Abstrakt von der Gestaltung her d.h. künstlerisch irrelevant = gegenstand-gegenstanslos. Es handelt s. um eine Frage der Reinheit – Absolute Bilder = Bilder des Absoluten = abstrakt = REIN. Gegenständliches verhüllt – verdunkelt: das Absolute im Gegenstandsbereich analogisch gestaltet. Das Künstlerische d. h. das Gestalterische im Bild – gegenstandsbezogen oder ungegenständlich – ist identisch = Begegnung von Zufall und Kalkül – von Bewusstem und Unbewusstem – … als Lebendiges in Komposition + Farbklang.
Thematisch geht es im gegenstandslosen wie im gegenständlichen Bild um den Bezug vom Seienden zum Sein … – um die kosmische Weite des Gegenständlichen – oder – um die Weite des Kosmischen im gegenstandslosen Bild. In beiden Motivkreisen ist Seiendes, Zeitlich-Endliches (= Farbform) in die Gestimmtheit des menschlichen Seins gehoben (Fond).«
Zu diesem Zeitpunkt signiert der Künstler bereits mit LUKA – Ludwig Kammerer. Die vier Buchstaben im Kreuzraster, gleichsam im Ausgleich der gegenläufigen Bewegung von Horizontalem und Vertikalem.
Die gestalterische Freiheit und die geistige Offenheit seines Blicks werden bereits in der ersten Werkserie vom Winter 1949 / 50 sichtbar. Es ist eine der automatischen Schrift verwandte Folge von Zeichen, in denen sich das Unbewusste unmittelbar ausspricht. Es entstehen auf einem kleinformatigen, gewerblichen Montageblock hingeworfene Schriftkürzel, die in einem Raster von Bildfeldern notiert sind. Variation, Sukzession und Kombination kennzeichnen diese Zeichennotationen, die wie ein Stenogramm eines inneren Formenflusses erscheinen. Es sind dynamische Bewegungslinien, die sowohl Kompositionen als auch Formkonstellationen oder Körperhaltungen evozieren.

Aus: Kammerer-Luka, Retrospektive 1950 – 2015, Band 1

 

Alain Buttard
Luka / Kempf: Die modulare Dynamik

Das modulare Denken ist ein Schlüssel für die Wahrnehmung der Wirklichkeit in Natur und Menschsein. Es begreift das Seiende als Wesen, die aus einer begrenzten Zahl von Elementen bestehen und in jeweils eigener Struktur organisiert sind. Seit den siebziger Jahren bilden Module und Strukturen die Basis der künstlerischen Arbeit von LUKA.
Konzeptuell ist für den Künstler ein auf die weiße Leinwand gesetzter Punkt identisch mit einem Pixel auf dem Bildschirm: Beide verkörpern den stiftenden Akt und Ursprung des Werkes.
Die Entstehung einer Linie kann als die Bewegung eines Punktes verstanden werden, deren Abfolge errechnet werden muss, um den Verlauf der Linie in Fläche und Raum zu bestimmen. Jedoch verweist ein mathematisch errechnetes Objekt nicht auf die Sinngebung eines Zeichens. Erst die Integration in ein Gesamtkonzept des Künstlers ermöglicht die Magie der Transsubstantiation, den Wesenswandel.
Die Elementar-Module (Quadrat, Dreieck, Kreis und deren Ableitungen) sind das Ausgangsmaterial der künstlerischen Form, die ›Welt‹ bedeutet – eine Welt, in der die Kunst mitwirkt beim ständigen Kampf gegen Erstarrung und Tod, denn die Dynamik der modularen Kunst erzeugt mit ihrem unendlich variierbaren Prozess serieller Kompositionen eine lebenserneuernde Energie. In der Abwandlung des Ähnlichen, der Verwandlung des Gleichen in der Serie nimmt das modulare Kunstwerk teil an der ständigen Wiedererschaffung der Wirklichkeit, ihrem kontinuierlichen Wandel. Das Leben ist ein großer Konsument von Formen – die serielle Kunst ebenfalls. Alles wird mitgerissen vom lebenserneuernden Wirbelsturm: alle Formen, aber auch alle Farben. Der Künstler tanzt wie Shiva für die Erhaltung der Schöpfung; er ist der mitreißende Choreograph, dessen Bewegung ununterbrochen zerstört, indem er ständig neu erschafft.
Und eben in der Entwicklung der Serie besteht der Beitrag von Jean-Baptiste Kempf durch die Programmierung des Computers, die dem Künstler den individuell unmöglichen Zugang zur Ausschöpfung aller Möglichkeiten eröffnet. Der Einsatz von neuen Werkzeugen der Realisierung sprengt die Grenzen des Individuums. Auf dem Bildschirm oder Computerausdruck gibt es keine sichtbare Gestik mehr für die Linie oder die Farbe, keine Handarbeit, keinen subjektiven Ausdruck.
Wie die Elementar-Module und die Elementarfarben hat nunmehr das vollendete Kunstwerk die reale Unmittelbarkeit eines Faktums der Kultur; es wird ein anonymes Objekt, ohne individuellen Schöpfer, mit keinem anderen Autor als dem menschlichen Genie.
In der Eigenbewegung findet das Universum sein Gleichgewicht. Die Modular-Kunst könnte heute – wie einst die alten Gottheiten – als vitale Energie erscheinen, die die Welt zusammenhält, wäre sie nicht ein Produkt des menschlichen Gehirns, d. h. eine provisorische Figur des Willens.

Aus: Kammerer-Luka, Retrospektive 1950 – 2015, Band 2

 

Barbara Nierhoff-Wielk
Von der Verdichtung der Form zum offenen Bildwerk –
Anmerkungen zu den computergenerierten Arbeiten

„Der Umgang mit dem Computer bedeutet für mich in erster Linie eine quantitative und qualitative Potenzierung der gestalterischen Möglichkeiten durch systematische Auswertung künstlerischer Ideen“ resümiert Kammerer-Luka 1984. Der Künstler benennt hier einen wesentlichen Aspekt in Bezug auf den Einsatz der Computertechnologie für seine Kunst. Die auf diese Weise generierten Arbeiten sind ein Bestandteil des künstlerischen Werkes, das von der Grafik über die Malerei bis hin zur Skulptur, Installation und Aktion breit gefächert ist. Nicht zwangsläufig bestimmen immer mathematisch-algorithmische Untersuchungen die künstlerische Gestaltung, wie beispielsweise die jüngsten Projekte zur Landart zeigen. Und auch die Ergebnisse der Arbeit mit dem Computer sind höchst vielfältig. Neben unmittelbar vom Computer generierten Grafiken beziehungsweise Gestaltungen gibt es solche Arbeiten, die die visuellen Ergebnisse eines Programms zum Anlass für weitere künstlerische Reflexionen in traditioneller Technik nehmen, und solche Arbeiten, die wiederum die Grundlage für ein Computerprogramm bilden.
1968 nimmt Kammerer-Luka seine Tätigkeit als Deutschdozent für Ingenieure im Fachbereich Maschinenbau am Institut für Technologie der Universität Besançon (IUT Belfort) auf, wo er im Dezember 1971 den Informatiker Jean-Baptiste Kempf kennenlernt. Als Gastdozent vermittelt der Elektroingenieur interessierten Dozenten der Universität die Programmiersprache Fortran. Seitdem arbeiten der Künstler Kammerer-Luka und der Informatiker Kempf zusammen und gründen 1972 die Groupe Art et Ordinateur de Belfort (GAOB).
Mit der Entscheidung von Kammerer-Luka, sich auf den Computer einzulassen und diesen für die Genese seiner Kunst heranzuziehen, beschreitet er nicht nur Neuland, sondern zählt auch zu den Pionieren, denn er gehört damit zu den wenigen Bildenden Künstlern, die sich früh dem neuen Medium Computer zuwenden. Die Gattung des ›digitalen Bildes‹ ist 1972 noch jung: Die ersten errechneten Bilder werden Anfang der 1960er Jahre in Deutschland und den USA realisiert. Doch sind die Pioniere Frieder Nake, Georg Nees und der Amerikaner A. Michael Noll keine ausgebildeten Künstler, sondern Naturwissenschaftler. Die Gründungsväter der digitalen Kunst sind also keine Künstler im herkömmlichen Sinne. In Deutschland gibt die Informationsästhetik von Max Bense, die das Ziel verfolgt, ›ästhetische Zustände‹ sowohl mathematisch-methodisch zu erzeugen als auch zu analysieren, einen wesentlichen Impuls für die Entwicklung der Computerkunst. So gilt beispielsweise die 1965 von Bense ausgerichtete Präsentation einiger Computergrafiken von Nees in der Studiengalerie der Technischen Hochschule Stuttgart nachweislich als die weltweit erste Ausstellung von Computergrafik überhaupt. Auch für Kammerer-Luka bildet die Informationsästhetik mit ihrem wissenschaftlich-mathematischen Zugang zur Kunst eine wichtige theoretische Basis.

Aus: Kammerer-Luka, Retrospektive 1950 – 2015, Band 2

 

Kammerer-Luka
Modulares Denken – Modulares Gestalten (2014)

1. Modulares Denken
Das Denken in Modulen hat eine kulturübergreifende Tradition in Mathematik und Geometrie. Die abendländische Philosophie spannt den Bogen von Demokrit bis Leibniz. Es bestimmt das wissenschaftliche Weltverständnis im Konzept von Zellen, Elementen und Atomen, den Bausteinen von Materie und Leben im energetischen Wandel von Aufbau und Zerstörung.

2. Modulares Gestalten
Modularem Denken entspricht das Gestalten mit Modulen: Modulare Formen und Proportionen der Architektur bis zum Ton- und Kompositionsrepertoire der Musik. Gegenständlich, abstrahierend oder geometrisch-konkret im Ornament. Vielfalt der Module, isoliert oder in symmetrischer wie asymmetrischer Reihung. Äußerste Komplexität in der islamischen Kunst. Module werden Sinnbilder mit mythologisch-religiösem Zeichencharakter. Welt wird evoziert.
Die Moderne bringt die Freiheit der offenen Gestalt. Geometrische Formen verselbständigen sich. Die orthogonalen Kompositionen von Malewitsch verweisen auf universelle Dynamik, werden Sinnträger für modernes Weltbewusstsein. Dieser Neuansatz findet seine Fortentwicklung in der konkreten Kunst; allerdings mit der Selbstbeschränkung auf „sinnfreie, ästhetische Zustände“ (Bense).

3. Hommage à Malewitsch
Hommage À Malewitsch (2007) nimmt den ursprünglichen Impuls auf und verstärkt ihn mit dem Multiplikationszeichen ›x‹. Das interaktive Steckrelief versteht sich als milliardenfache Wiederbegegnung (916) mit Malewitsch, dem schwarzen Quadrat auf weißem Grund, Inbegriff der Revolution in der Modernen Kunst.

4. Alea Modular
Die 13 Digitaldrucke der Kunstmappe Alea Modular (2012 – 2013) gehen einen Schritt weiter, eine variable Anzahl schwarzer, aus dem Quadrat entwickelter Rechteckformen schweben im Bildraum. Ihre kompositorische Organisation beruht auf der Wurfaleatorik. Modulare Formen und gestueller Zufall fügen sich zur unwiederholbaren Gestalt: Freiheit und Ordnung im offenen Bildwerk.

5. Color 2010
Das bildnerische Material dieser Installation sind Fundobjekte: Einkaufstaschen aus transluzider, farbiger Plastikfolie. Aleatorisch im Raum verteilt bringen sie in den sechs Grundfarben plus schwarz und weiß die Ganzheit der Farbwelt in den Horizont des Blicks. Das variable Zueinander der farbintensiven Formen wird Thema der Bildgestaltung. Im modularen Rechteckrahmen des Objektivs findet der Künstler-Fotograf Farbform-Motive, die in der Kohärenz des Bildaufbaus die schöpferische Individualität sichtbar machen, den Stil des Künstlers.
Ein Ausschnitt aus der endlosen Bildserie ist in der beiliegenden DVD dokumentiert.

6. Magnetbilder
Interaktivität gilt werkübergreifend: Schon in den 1970er Jahren wird der Zuschauer zum aktiven Partner bei der manuellen Rotation oder dem Aktivieren des elektrischen Antriebs innerhalb eines geschlossenen Form-Findungs-Systems für monochrome Zeichen oder farbige Flächenkompositionen. Wie z. B. 1980 im 9-teiligen Metaschriftrelief. Auch das Konzept der Computerprogramme Datum (1996) und Name (1998) beruht auf der Interaktion: Der Besucher gibt die Parameter für sein persönliches Computerbild aus Barcode-Modulen ein. Die Landart-Projekte Carrés Nomades (2006) und Kronos (2007) erfordern ebenfalls die aktive Mitwirkung der Besucher.
Erst die Magnet-Bilder führen vom geschlossenen zum offenen Gestaltungssystem. Der Künstler schafft die Rahmenbedingungen für die Magnet-Skulptur I oder das Magnet-Relief II, III und IV.
Auf einem Stahlsockel steht der weiße Quadratkörper (50 x 50 x 4 cm), in dessen Zentrum beidseitig eine Stahlplatte (30 x 30 cm) magnetisierten Kunststofflamellen Halt gibt. Das Vokabular ist auf sieben gleichlange (30 cm) und gleichbreite (4,28 cm) Module beschränkt, die im Prisma des Regenbogens die Welt der Farben ins Spiel bringt. Die Spielregel erlaubt jede mögliche, auch rahmensprengende Komposition innerhalb der Haltekraft des Magnetfelds.
Für das Magnet-Relief II, III und IV vervielfachen sich die Kompositionsmöglichkeiten ins unendlich Endlose durch die Variationen der Lamellenbandbreite, Lamellenlänge und der Vergrößerung der unterlegten Stahlplatte auf das gesamte Bild-Quadrat (50 x 50 cm).

7. Modulare Gestaltung
Ephemere Kunst als ernstes Spiel. Während bei den universellen Kampfspielen sich das Individuum im Kollektiv verliert, steht im Spiel der Kunst Welt auf dem Spiel in der Freiheit kreativen Selbst-Seins.
Die Moderne öffnet Perspektiven einer postkulturellen Utopie des Miteinander-Seins – nicht mehr von formatierten Geschöpfen, sondern freier, schöpferischer Menschen in einer weltimmanenten Gesellschaft.

Aus: Kammerer-Luka, Retrospektive 1950 – 2015, Band 2

 

Kammerer-Luka
Zu den Filmen

Die Belforter Gruppe für Computerkunst Groupe Art et Ordinateur de Belfort (GAOB) entstand aus der Zusammenarbeit des Künstlers Kammerer-Luka und des Informatikers J. B. Kempf bei der Erprobung des Computereinsatzes für Kunst am Bau zur Erneuerung architekturbezogener, großer Mosaikkunst. Ein Repertoire von elementaren Bausteinen wurde aus Kreis und Quadrat entwickelt. Das Computerprogramm steuert die gleichwahrscheinliche oder durch Markov-Ketten regulierbare Verteilung der Module. Die computergestützte Kombinatorik ermöglicht eine ungleich größere Variationsbreite bei der Mosaikgestaltung als die traditionellen Kompositionsverfahren. Das Gestaltungsprinzip von Zufall und System liegt auch der virtuellen Textfindung zugrunde, für die das Buch PARTITION 1992 mit dem Goldenen Plotter der Stadt Gladbeck ausgezeichnet wurde.
Seit 1995 ist die Strichcodierung Thema gestalterischer Untersuchungen. Erste Ergebnisse zeigte GAOB 1996 in Form eines interaktiven Computerprogramms: Aus der Zahlencodierung der Geburtsdaten kombiniert der Computer individuell differenzierte Bildkompositionen.

 

Dieter Weber
Anmerkungen zur Retrospektive 1950 – 2015

Nachdem 1972 die ›Groupe Art et Ordinateur de Belfort (GAOB) mit dem Informatiker Jean-Baptiste Kempf gegründet wird, erweitern sich die Ausstellungsaktivitäten und regelmäßigen Teilnahmen an internationalen Wettbewerben. In der GAOB kann Kammerer-Luka an der Umsetzung seiner künstlerischen Konzepte im Bereich der computergestützten Kunst arbeiten.
Zudem ergibt sich eine enge inhaltliche Verbindung zwischen seinem freien künstlerischen Werk und den Designentwürfen. Denn nach Beendigung seiner Lehrtätigkeit am ›Institut Universitaire de Technologie de Belfort (IUT), die Kammerer-Luka von 1968 bis 1989 ausübte, baut er in Belfort als Industriedesigner ein bis 2005 außerordentlich erfolgreiches Unternehmen auf: Kammerer-Luka-Design (K-LD), welches vorwiegend in Deutschland aktiv ist. In dieser Zeit entstehen große, erfolgreiche Projekte für Dienstleistungsunternehmen. In Zusammenarbeit mit Architekten und Ingenieuren werden Projekte an Hochbauten (Gewerbe, Hotel), für Inneneinrichtungen (Sparkassen) und Transportfahrzeuge (Bus und Bahn) sowie im Bereich des Grafik-Design und Industrie-Design realisiert.
Teile des Werkes von Kammerer-Luka sind in bedeutenden Sammlungen vertreten. 1989 wurde ein umfangreiches Konvolut an frühen Werken der computergestützen Kunst an die Grafiksammlung der Bibliothèque Nationale de France ausgehändigt. 2012 hat das Archiv Kammerer-Luka eine Auswahl von Druckgrafiken und Serigrafien der Jahre 1973 bis 2011 wiederum an die Bibliothèque Nationale de France übergeben. 2002 werden zahlreiche Arbeiten der Computerkunst in die Grafiksammlungen der Kunsthalle Kiel aufgenommen. In der Sammlung von Herbert W. Franke, die 2007 an die Kunsthalle Bremen überging, befinden sich seit 1981 Werke von Kammerer-Luka und Jean-Baptiste Kempf. Ebenfalls 2007 übernimmt das Kupferstichkabinett der Kunsthalle Bremen ein umfangreiches Konvolut der von 1975 – 79 entstandenen Originale der ersten im Centre Pompidou (ARTA) gedruckten Plotterzeichnungen von Kammerer-Luka.
Die Stadt Belfort, in der Region Franche-Compté und Stadt des Bertoldi-Löwen ist seit 1963 Kammerer-Lukas Lebens- und Arbeitsmittelpunkt. Belfort würdigt sein Werk und kontinuierliches künstlerisches Schaffen. Herausragend ist die vierteilige Retrospektive im Jahr 1990, die im Theater von Belfort stattfand und mit einer Kunstaktion im öffentlichen Raum beendet wurde. In der Sammlung der Museen von Belfort und den Archives des Departements befinden sich heute Arbeiten des Frühwerks, der ›Groupe Couleur der ›Groupe Art et Ordinateur de Belfort und des fotografischen Werkes.

Aus: Kammerer-Luka, Retrospektive 1950 – 2015, Band 2